in: Nikolaus Koliusis. ZwischenLicht. Liechtenstein: 2006 (erscheint im April 2006)
Sehen
Sich Nikolaus Koliusis' Kunst zu nähern, heißt sehen lernen.
Wir sehen Spiegel, sehen den Raum gebrochen und verdoppelt,
Räume sich überschneiden. Wir befinden uns in einem
von mehreren sichtbaren Räumen, sehen virtuelle Räume und
fühlen uns in einem Raum, dem realen.
Permanent bauen wir in unserer Wahrnehmung Räume auf,
Echos des realen Raums, den wir durchschreiten und in dem
wir leben. Sehen heißt, diesen Raum, in dem wir leben, für
unser Denken zu übersetzen. Er bekommt eine Repräsentanz
und kann so mit anderen Repräsentanzen unserer Welt, den
Begriffen, korrespondieren.
Sehen heißt Raum denkfähig und sprachfähig machen.
Nikolaus Koliusis führt uns das Sehen vor. Er führt uns das Licht
vor, das Medium des Sehens. Zeigt uns, wie das Licht einen Weg
zurück legt. So wie Schall ein Ereignis in der Zeit ist. Er führt die
Membrane der Brechung vor, zeigt das davor und dahinter des
Weges, den Licht zurücklegt.
Seine Apparate des Sehens verdeutlichen, dass Sehen ein Wahrnehmen
von Differenzen ist. Es ist ein Vergleichen, Abgleichen.
Sehen wir Blau, dann sehen wir, dass anderswo Nichtblau ist.
Orange, dass anderswo Nichtorange ist. Ohne das Nichtblau
wären wir blind für Blau. Und genau in diesen Differenzen zeigt
sich Zeit. Nichtblau – Blau: ein Zeitsprung.
Und dennoch drängt sich im Sehen Unmittelbarkeit auf, fühlen
wir uns als Zeitgenossen des realen Raums, als Zeitgenossen
der Menschen, die wir treffen, von denen wir meinen, dass sie
sich in dem selben Raum bewegen. Wir meinen im Sehen das
Jetzt zu erfassen.
Die virtuellen Räume, die Nikolaus Koliusis uns vorführt, die
eingefärbten und gebrochenen, die gefalteten zeigen Raum
als Plural. Es gibt nicht den einen Raum. Nur Räume. Und so
zerst ört er die Zentralperspektive, zeigt dafür Perspektiven.
Sichtweisen.
Der andere Mensch hat eine andere Perspektive. Hat ein anderes,
vermeintlich unmittelbares Bild der Welt. Hat ein Bild der
Welt, dass er nicht teilen kann.
Das Sehen als Akt der Wahrnehmung können wir nicht teilen.
Jeder muss selbst sehen. Wir können zeigen. Nikolaus Koliusis
zeigt. Und gibt Anst öße zu einer Wahrnehmung, die wieder
unteilbar ist. Aber dafür mitteilbar. Es braucht die Mitteilung,
um uns einander nähern zu können, um vom Ich zum Du und
zum Wir zu kommen.
Das Wir ist ein Zustand der annähernd deckungsgleichen Räume,
in dem die Differenz zur Nuance wird. Ein Zustand, der Präzision
in der Auseinandersetzung mit unserer Welt ermöglicht.
Es ist der Zustand, in dem die unverständliche Fremdheit, die
im Extremfall die Negation des Gegenübers bedeutet, überwunden
wird.
Jan Rinke
»Nikolaus Koliusis