in: KunstVerein Ahlen e.V. (Hg.). Martin Schmid: Abriss. Ahlen: 2005. S. 8 - 13


"Démolution d'un mur"

ABRISS Martin Schmid muss seine Arbeit machen. Eine Mauer einreißen heißt erst eine Mauer einreißen, wenn man es tut. Vorher ist es bloß ein Gedanke wie der Zuspruch vor einer Operation: Du wirst wieder gesund. Und das muss erst mal gemacht werden. Die Wand abreißen ist Arbeit. Die Wand hat sich nicht bloß aus der Mitte der Stadt-Galerie Ahlen verabschiedet. Es musste gemacht werden, dass sie nicht mehr da ist. Und sie ist nicht nur fort, sondern zerstört, nur noch Schutt auf irgend einer Deponie, Souvenierbrocken auf der Fensterbank, Dreck an den Schuhen.

Samstag 8.1.05, 8 Uhr. Wir wissen, was passieren soll, ahnen nicht, was passieren wird. Noch ist die Arbeit nicht gemacht. Wie zum Anstreichen wird der Umraum der Wand mit Folie abgeklebt, den zwei halben Galerieräumen überlagert sich eine Dreiteilung mit mittiger Arbeitszone. Leitungen werden abgeklemmt, Schutzmaßnahmen, dann auch massiverer Art, errichtet, Ohrenstöpsel an die Beobachter verteilt, bevor der Vorschlaghammer das erste Mal trifft, Dellen in den Putz drückt, sich zarte Risse abzeichnen. Der Stein zum ersten mal wegspritzt, ein Loch reißt, einen Punkt mit ausgefransten Rändern, an denen endlich das Innenleben der Wand herausquillt, ein Durchbruch, der sich in die Wand frisst, sie schließlich verschlingt. Der Takt der Hammerhiebe rammt Hochlochziegel raus, lässt sie wie in Explosionen platzen. Zugleich staubschwangeres, lärmendes Inferno und beherrschte Choreografie der Logistik, in der jede Hand weiß, was die andere tut.

Immer neu bauen sich die Raumsituationen auf, um bald wieder eingerissen zu werden. Im beständigen Wechsel der Szenerien, überlagern sich Haupt- und Nebenschauplätze des Eingriffs, der Arbeiter, des Materials, auch der Dokumentation und Schaulust. Schuttberge türmen sich, wachsen zu Trümmerlandschaften zwischen den Architekturen der Schutzvorkehrungen, werden zugleich wieder ab- und fortgetragen. Ein dynamisches Wechselspiel des Materials wie der Notwendigkeiten zwischen Planung und Improvisation. Hindernisse stellen sich in den Weg, Überraschungen, Klärungsbedarf. Meist löst instinktsicheres Handeln das Problem, mal kurze Absprachen, auch Befehle, seltener die "Expertendiskussionen" der Umherstehenden.

Dann irgendwann ist die Wand keine Wand mehr, und es steht nur die Stahlzarge des Durchgangsrahmens noch. Eine Markierung des Dies- und Jenseits der gewesenen Wand. Wie ein Gerät, das erst ermöglicht, durchzuschauen. Eine kurzzeitige Installation, die, im flammenden Feuerwerk der Funken zertrennt, dann herausgehebelt, zerteilt im Schuttcontainer landet. Reststümpfe am Boden werden herausgespitzt, Feinarbeiten an der Narbe, wo vorher die Wand mit Boden, dem Deckensturz, den Seitenwände verbacken war.

Die schweren Verbaue sind verschwunden, da wird schon zusammengekehrt, Reste einer Mauer weggefegt, deren kleinste Partikel noch in den Haaren hängen. Der die Gespräche verschlingende Krach, das Hämmern und Kreischen, verzieht sich nach und nach mit dem Schutt aus dem Raum. Ruhig fallen die leichten Folienvorhänge, vom farbigen Klebeband gelöst, erst einer, später der zweite und geben den Blick frei in einen Raum, der vorher nicht da war. Endlich wird er mit Blicken und Schritten durchmessen, begutachtet, diskutiert, behorcht, noch gewischt und leer geräumt, fotografiert und verlassen. Ein Kurzschluss fügte sich unerwartet in das ausklingende Spektakel, das mit dem Abklemmen der Leitungen seinen Anfang nahm.

Etwa fünfeinhalb Stunden dauerte der Eingriff. Er begann wie eine ambulante Operation und endet auch so. Für den Besucher des Kunstvereins, der nur das Vorher und das Nachher selbst im Raum erlebt, muss es wie ein Erwachen aus der Narkose sein.

PROFIS Martin Schmid hat das alles nicht selbst gemacht. Es waren Fachleute am Werk, Leute, die ihr Handwerk verstehen. Der Künstler hat die handgreifliche Umsetzung abgegeben. Er betritt damit Neuland. Ganz in der Logik seiner bisherigen Arbeit, führt er sie einen großen Schritt weiter.

Er hat immer selbst Hand angelegt, bewaffnet mit seinem Werkzeug vorgefundene Umwelt bearbeitet, hat Cover abgeschliffen, Wände mit dem Bohrer tätowiert, mal grob darauf gezeichnet, geschrieben, mal präzis konturierte Motive gesetzt, mal Konstellationen unterschiedlich tiefer Krater in Wände eingegraben. Hat es mit eigener Hand getan. Ein Macher.

Dafür mussten immer neue Techniken erforscht und angeeignet werden. Martin Schmid hat sie erfunden, Werkzeuge umgedeutet, zweckentfremdet. Statt mit dem Stift hat er mit dem Bohrer gezeichnet, statt Papier zu radieren, schneiden oder zu überkleben hat er feinste Schichten Druckfarbe von Bildern abgetragen.

Immer aber mit dem klaren Ziel vor Augen: dem optimalen Ergebnis mit dem Material. Seine Arbeit muss platziert, in den Raum gebracht werden, ihren Ort finden, an Oberflächen kratzen und in die Dinge eindringen, ob es nun Lifestylemagazine oder Häuser sind. Martin Schmid durchbricht die Widerstände des Gegenstandes, ist konsequent, radikal, ohne Rücksicht auf Verluste. Jeder Handgriff ist dabei nur so gut, wie er zum Ziel führt.

Es geht nicht um die Aktion, auch wenn sich dem Betrachter immer wieder die kindliche Neugier nach dem Wie des Entstehens aufdrängt. Bisher hat Martin Schmid mit der oft verblüffenden Beschreibung seines Handwerks Auskunft geben können. In Ahlen lautet die Antwort: Ich habe der Firma ExKern aus Münster den Auftrag erteilt, die Wand zu beseitigen. So wie bisher das Ziel der Realisierung eines Gedankens der eigenen Technik die Logik gibt, so verlangt das selbe Ziel aus rein pragmatischem Zwang heraus, nun die Handgreiflichkeiten den Fachleuten zu überlassen.

Sie können es einfach besser. Und sie reichern die Arbeit mit ihrem Repertoire an zielführenden Lösungen an. Jedem Arbeitsgang, jedem Handgriff wohnt eine Schönheit inne, die den Notwendigkeiten des Ablauf entspringt, zu dem nichts hinzugefügt, aus dem nichts weggelassen werden darf. Die Form bekommt ihre Präzision aus dem konsequenten Verzicht auf die Form. Besser als jeder Künstler es selbst könnte.

Selbst die Wand einzureißen hätte das Missverständnis genährt, hier würde es um ein Happening oder eine brachiale Symbolhandlung gehen. Die von ihrer Einengung befreite Galerie ist die Arbeit, deren Entstehungsprozess aber alle Qualitäten aufweist, die ein Happening nur haben kann.

VERSCHWINDEN UND BLEIBEN Schon jetzt ist die Arbeit physisch außerhalb des Raumes, hinter und unter der Oberfläche, die bisher die Ausdehnung der Galerie definiert hat. Es gibt ja kein Stück Material, das noch nicht da gewesen wäre, bevor die Arbeit entstanden ist. Sie wurde der gegebenen Situation abgerungen. Mit dem Verspachteln und Überstreichen, mit dem Verfüllen der Hohlräume, dem Überbrücken und Verkleben des Bodens werden die Spuren auch wieder außerhalb des Raumes sein.

Wenn die Zeichnung der Abrissnarbe fachgerecht beseitigt sein wird, die noch das Datum zwischen dem Vorher und Nachher dokumentiert, dann wird die Arbeit immer noch da sein. Sie wird unsichtbar weiter existieren. Noch in ihrer Abwesenheit präsent sein.

Jeder Künstler, der in Zukunft hier arbeiten wird, kann nicht mehr in den zwei halben Räumen arbeiten. Die sind weg, es gibt nur noch den neuen Raum. Den Raum, in dem die Stützen aus ihrer Enge befreit sind, in dem die Qualität der zwei Zonen nicht zerteilt ist, sondern zusammenwirkt. Den sein sachter Knick in leichte Schwingung versetzt. Ein Raum, der sein Verhältnis zum Gebäude klarstellt und sich nun als Körper im Stadtgefüge orientiert. Und darf man hoffen, dass die Stadt auch den Galerieraum neu und anders entdeckt.

Die Entscheidung für diesen neuen Raum brauchte den Mut zu einem unwiderruflichen Schritt. Den Mut, etwas zu wagen, dessen Qualität sich erst im Machen bewahrheitet. Dazu musste sich der Kunstverein durchringen, überzeugt werden, mussten Genehmigungen eingeholt werden. Es wurden Bedenken geäußert, dafür und dagegen gerungen, in seltener Intensität argumentiert und auch gekämpft. Damit hat sich der Kunstverein Ahlen die bisher radikalste Arbeit von Martin Schmid zugemutet und betritt und gewinnt neuen Raum.

Jan Rinke Januar 2005