design report, 12/03 (Dezember), S. 28ff


Utopia, knallbunt

Was Farbe bewirken kann, lässt sich in Tirana studieren. Der Bürgermeister der albanischen Hauptstadt verordnet bunte Hausfassaden. Sein Ziel: Identifikation zu schaffen, den Bewohnern der grauen Stadt, vor kurzem noch in Anarchie versunken, zu zeigen, dass Veränderung möglich ist.

"Anri, tell me
the truth. Tell me that this city does not exist." Was wir sehen, ist unglaublich. Die albanische Künstlerin Anri Sala zeigt auf der Biennale in Venedig Bilder aus Tirana. Tirana ist nicht irgendeine Stadt. Es ist die Hauptstadt des ärmsten Landes in Europa. Die Infrastruktur ist eine Katastrophe, die Versorgung mit Wasser, die Straßen sind in desolatem Zustand; man könne wegen der Schlaglöcher oft nicht schneller als 30 Kilometer pro Stunde fahren, schreibt das Auswärtige Amt. Daher wahrscheinlich so viele Mercedes-Benz, wie auch immer sie hierher gelangt sein mögen. Andere Autos halten das nicht lange aus. Stromausfälle, die westliche Metropolen ins Mark treffen, sind hier an der Tagesordnung. Abwässer werden ungeklärt in den Fluss Lana geleitet. Und uns sind noch immer die Bilder von in Booten zusammengepferchten Menschen im Kopf, die ihr Leben riskierten, nur um aus dem Land herauszukommen. Wir verbinden Albanien mit Korruption und Menschenhandel. Aber alles das ist nicht so unglaublich. Wir haben uns längst daran gewöhnt, dass unser westlicher Wohlstand die Ausnahme auf der Welt ist.

Unglaublich ist etwas anderes: Tirana ist jetzt bunt. Knallbunt angemalt. Tirana ist jetzt pink und grasgrün und orangegelb und türkis und kobaltblau ... Nicht nur die Farben sind grell, auch die Kontraste. Untereinander und zu den aufgewühlten Straßen, zu den heruntergekommenen Häusern selbst. Ist das ein schlechter Scherz? Wer denkt sich das aus? Und wer macht es und warum? Ist da ein moderner Potemkin am Werk? Einer, der meint, man könne die Wirklichkeit einfach übertünchen? Fassaden bauen für die Besucher von der Weltbank oder der EU? Und weil die Wirklichkeit so unglaublich trist sein muss, so hoffnungslos, tun die heftigsten Farben es umso besser. Ein Zyniker?

Ausnahmesituation
Edi Rama ist Bürgermeister von Tirana. Und er ist Künstler. Er regiert die Stadt, in der die Hälfte der albanischen Bevölkerung lebt, und ist damit einer der mächtigsten Männer im Staat. Erst Anfang Oktober wurde er im Amt bestätigt. Unter anderem dafür, dass täglich neue Häuser mit seiner bunten Grafik angestrichen werden, mit Geld, das an allen Ecken und Enden fehlt. Schon die Vorstellung von einem Künstler als Bürgermeister einer Metropole befremdet. Edi Rama erzählt uns die Geschichte von den Farben in Tirana, von seinen Farben. "Die Stadt war tot. Sie sah aus wie eine Transit-Station, wo es nur auszuhalten war, wenn man auf etwas gewartet hat." Um zu verstehen, dass "tot" etwas anderes meint als unsere Zwischenstadtlangeweile, muss man etwas ausholen.

Zur Zeit vor dem Fall des Kommunismus, zur Hoxha-Zeit, herrschte in Albanien nicht nur die rigideste Planwirtschaft mit allen wirtschaftlichen Folgen, an denen das Land heute leidet. Albanien war auch eine Insel ohne Kommunikation mit der Außenwelt. Abgeschnitten von jedem Informationsfluss. Ohne Literatur, ohne Bücher – die waren verboten. Wer gegen das Verbot verstoßen hatte und auf irgendeinem Wege doch an ein Buch gekommen war, musste mit harter Bestrafung rechnen. Es war ein Land ohne moderne Kunstgeschichte. Die Helden der Moderne kamen allenfalls als Namen für Dekadenz vor, ihre Bilder waren unbekannt.

So radikal wie die Abschottung und Kontrolle des Lebens bis ins Privateste war dann auch die folgende Entregelung Anfang der 90er Jahre. Da alles Eigentum allen gehört hatte, wurde es auch an alle zurückgegeben. Was bisher kollektiv war, wurde über Nacht privat. Ein Spiel ohne Regeln ging los, in dem jeder nur an seinem möglichst guten überleben interessiert war: Die Parks von Tirana wurden unkontrolliert überbaut, auch der Fluss Lana, eine Kloake im Betonbett, wurde von illegaler Bautätigkeit überwuchert. Die Wohnungen, die plötzlich Eigentum waren, wurden rücksichtslos erweitert und aufgestockt.

Neuanfang
"Brutal" nennt Edi Rama diesen Umgang mit den Häusern, den Raubbau am Stadtbild. Seine Maßnahmen, mit denen er vor zwei Jahren begonnen hat, sind daher auch wenig zimperlich. Schonungslos hat er alles mit dem Bulldozer weggeräumt, was illegal auf öffentlichen Flächen errichtet wurde. Park und Fluss sind inzwischen wieder frei von den überwucherungen der Wohnungsnot, zurückgegeben an die Bürger der Stadt. "Giving the city back to its citizens", lautete auch der Untertitel eines kürzlich veranstalteten städtebaulichen Wettbewerbs, der die Stadt für die künftige Entwicklung fit machen soll und außerordentliche Aufmerksamkeit in der Bevölkerung gefunden hat, wie sie Städtebau in Deutschland noch nie erfahren hat. Die Medien waren voll mit Berichten über die Entwürfe der Architekturbüros Bolles & Wilson, Architecture Studio und Mecanoo. Städtebau im Fernsehen, Diskussion über Stadtentwicklung in der ganzen Bevölkerung.

Wie ist das möglich, wo kurz vorher noch reiner Eigensinn das Sagen hatte? Wo Investitionen aus Entwicklungshilfegeldern oder internationaler Geldwäsche stammen, wo man auf die Verwirklichung einer NATO-Basis als wirtschaftlichen Impuls hofft, wo ansonsten kein Cent in den Kassen ist? Wer kümmert sich in einer solchen Situation um Städtebau, Stadtbaukultur? Wer bestellt sich Stadtplaner, obwohl er sich nicht mal den Klempner leisten kann? Ist es reiner Dilettantismus von Politikern in einem vom Westen abgehängten Land? Wer ist da am Werk, wenn er mit Geldern der Weltbank Häuser anmalt, statt die Mittel für das einzusetzen, was wir unter Entwicklungshilfe verstehen? Und wer ist es, der die Weltbank von seinen Farben überzeugen kann?

Es gehe ihm nicht darum herauszufinden, wie man Tirana bewohnbar machen könne, nicht, wie man es zu einer Stadt umgestalte, in der zu leben man sich aussuche, statt dazu verdammt zu sein. "Die Farbe", sagt er, "war ein Prozess, der es möglich gemacht hat, Zeit als gemeinschaftliches Element zu erfahren." Es geht um Zeit. Um das Erleben von Veränderung. Nicht darum, wie die Veränderung konkret aussehen soll, sondern darum, dass sich überhaupt etwas ändert. Edi Rama interessiert es nicht, wer in welcher Farbe seinen Balkon gerne gestrichen haben möchte oder wie Leute sich ihr ganzes Haus bemalt wünschen. Er interessiert sich nicht für den Geschmack der Bewohner. Würde man danach schauen, dann bekäme man genau die Mischung aller Farben, aller Geschmäcker: Grau. Grau waren die Häuser vorher. Alle. Grau waren sie in der gesamten Hoxha-Zeit und danach, als jeder sich noch ein halbes Wohnzimmer hier oder ein Schlafzimmer da an sein Haus gebastelt hat und die Konturen der Häuser zerstört wurden. Grau, so wollten es auch weiterhin viele haben. Es gab eine Protestbewegung, um das alte Grau zurückzubekommen. Doch auf die Protestbewegung folgte die Gegenbewegung, um nun die neuen Farben zu verteidigen.

Es entbrannte eine hitzige Debatte über Farbe. Auf den Straßen und Plätzen, in den Cafés, überall ging es plötzlich um das Für und Wider der neuen Farben. Mitten im ärmsten Land Europas fand eine ästhetische Debatte statt, engagierter und breiter als in jedem unserer Wohlstandsländer. Inzwischen gehören die Farben zur Stadt, sie sind nicht mehr wegzudenken. Selbst wer noch Bauten ohne Genehmigung errichtet, streicht sie bisweilen so bunt an wie der Bürgermeister – zur Tarnung.

Farbe als Prozess
"Was wir getan haben, ist nicht ein Ergebnis der Demokratisierung, es ist viel mehr eine Avantgarde der Demokratisierung." Nicht jeder Mensch ist Künstler, aber jeder ein Kunstkritiker. Nach den absurden Verboten des Hoxha-Regimes und nach den puren Eigeninteressen der Zeit nach der öffnung diskutieren die Leute in Tirana wieder: über Farbe und über Städtebau, über die Identität der Stadt und über das, was hinter den bunten Fassaden noch alles aufgeholt werden muss.

Edi Rama ist kein Zyniker, keiner, der über die Missstände bloß einen Zuckerguss schmiert. Das wäre auch kaum möglich. Zu eklatant sind die Probleme der Stadt, deren Einwohnerzahl sich in den letzten Jahren verdoppelt hat und die weiter wächst. Man mag die Farben mögen oder nicht. Kitschig sind sie nicht, sie sind kein Dekor, keine Verschleierung der Wirklichkeit. Eher halten sie der Realität den Spiegel vor. Edi Rama ist alles andere als ein Hundertwasser, kein verträumter Romantiker. Er ist sogar froh, sich nicht mehr täglich mit der frustrierenden Frage eines Künstlers in den eigenen vier Wänden auseinander setzen zu müssen, ob er nun ein Bild malen soll oder nicht.

Edi Rama ist Pragmatiker. Er weiß, dass es ihm unmöglich ist, die Defizite der Stadt selbst zu beheben. Aber er weiß genau, wie man öffentlichkeit erzeugt. Eine öffentlichkeit, die nötig ist, um Albanien eine Chance auf einen Anschluss an Europa zu geben und gleichzeitig die zurückgewonnene Identität nicht an fremde Interessen zu verkaufen. Er ist einer von den Leuten, die wissen, dass erst die Lethargie und Aussichtslosigkeit beseitigt werden müssen, um überhaupt etwas in Albanien zu bewegen.

Edi Rama hat eine Utopie: Es ist die Utopie von einer neuen ära in Albanien. Die Utopie des Pragmatikers ist nicht grau, sondern knallbunt. Sie heißt Tirana und sie existiert bereits.

Jan Rinke


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